Schon immer interessiert mich die Reduktion. Kann zum Beispiel in der Musik ein einzelner Ton nicht genauso berühren, Emotionen wecken und Resonanz erzeugen, wie ein Klang, ausgeführt von 100 Instrumenten? So im Alltäglichen: Meine Suche ist, ein Bewusstsein zu schärfen, mit welchen Dingen, Aufgaben, Belastungen wir uns überflüssigerweise umgeben und ob ihr Weglassen eine Bereicherung, Entlastung und Freiheitsgewinn bedeuteten kann?
Klaus Wilmanns

„Für mich unmittelbar mit der Frage verbunden: ‚Was braucht der Mensch?‘, frage ich mich, ob weg zu lassen automatisch heißt etwas oder jemanden zu verlieren und ob es uns deshalb mit Angst erfüllt und negativ behaftet ist, da wir eine Entscheidung dagegen treffen müssen. Doch je länger ich mich mit dem Weglassen beschäftige, desto mehr habe ich den Eindruck, dass es genauer beschrieben: Die Kunst des Weg lassen’s heißen müsste. Also einen Freiraum zu ermöglichen, wodurch ein Pfad begehbar und sichtbar wird, auf dem etwas gefunden werden kann, was sonst verborgen oder verschleiert bliebe.“
Mike Brendt

Vorwort Seite 3

Regionale Interviews
unverpackt-Laden, Treysa Seite 6
Waldkita, Homberg (Efze)
Teil 1, die Kinder Seite 8
Teil 2, die Leiterin Seite 10
Documenta 15, „Das Mahl“ Seite 12
Skywalker, Erlebnispädagogik Seite 14
Kellerwaldhof, Bad Zwesten
Teil 1, Martin Häusling Seite 15
Teil 2, Marianne Häusling Seite 18
Dorfmühle Willingshausen Seite 20
Repair-Café im Werkraum Treysa Seite 22
Machwerk in Homberg (Efze) Seite 24
Die Futurnautinnen –
Flux-Residenz, Schwalmstadt Seite 26
Schloss Hirschgarten, Borken Seite 28
Wildpark Knüll Seite 30

Theatergespräche
Jahrmarkttheater, Bostelwiebek Seite 32
Theater Papilio, Tübingen Seite 35
Annika Keidel, Fulda Seite 38
Hirsch & Co, Eisenbach Seite 41

Konzeption
für ein Theater der Zukunft
in ländlichen Räumen Seite 44

DIE KUNST DES WEGLASSENS – eine Erschöpfung

Ich finde es erstaunlich, wie grundlegend sich die Welt
und manche Dinge innerhalb weniger Jahrzehnte verändern
können. Meine Sehnsucht zum Beispiel. Vor circa
50 Jahren, als ich ein Kind war, hatte ich ein Lieblingsbuch.
Es hatte wenig Text aber viele gemalte Bilder. Dieses
Bilderbuch entführte mich in eine fantastische Welt
und ich wünschte sehnlichst, ich könnte wirklich dort leben,
im Schlaraffenland.
Im Schlaraffenland war jede denkbare Lieblingsspeise
im Überfluss vorhanden. Märchenhaft. Durch die Luft
sausten fliegende Brathähnchen. An den Bäumen hingen
Bonbons, Kekse und Tortenstücke. Auf der Wiese wuchsen
Lollis und Eis am Stiel. Der Fluss führte statt Wasser
Honig und es gab einen See aus Milch. Bäume, Blumen,
Früchte, Tiere, die gesamte Natur, sogar die Steine waren
in diesem Land mundfertig zubereitet, um den Menschen
das Leben zu versüßen. Schlaraffenland versprach ein
Leben, wie in einer Konditorei, einem Kiosk oder einem
Lebensmittelladen. Wunderbarerweise alles gratis, stets
verfügbar und sofort nachwachsend.
Bei dem Gedanken, wirklich in Schlaraffenland leben zu
müssen, wird mir mittlerweile flau im Magen. Mir wird
übel bei der Vorstellung, jedes Blatt an den Bäumen
könnte eine Süßigkeit sein und die Steine auf dem Feldweg
wären Bonbons oder Krokant oder Nüsse. Was ist
passiert? Warum hat sich meine Sehnsucht, die vor Jahrzehnten
auch vielen Erwachsenen sehr gut gefiel, so in
ihr Gegenteil verkehrt?
Als ich Kind war, steckte den Menschen noch die Erfahrung
des Krieges in den Knochen. In den 60er Jahren
waren Zerstörung, Hunger und Armut zwar oberflächlich
überwunden und im ganzen Land arbeiteten die Menschen
am viel beschriebenen Wirtschaftswunder, aber
die Erinnerung an den Mangel war noch präsent. Die
Schilderungen meiner Großmütter, wie sie hungerten
und sich von Wassersuppe oder schimmeligen Kartoffelschalen
ernährten, schienen mir als Kind genau so weit
weg, wie Schlaraffenland. Die Geschichte vom Hunger
war das böse Märchen, Schlaraffenland das wundervolle.
Aus heutiger Sicht kann ich erkennen, dass Überfluss
ebenso viele Probleme mit sich bringt, wie Mangel. Wir
sind längst in einer Art Schlaraffenland angekommen, in
einer Überflussgesellschaft. Die Anzahl der Produkte im
Supermarktregal überfordert mich. Speisekammern und
Kühlschränke sind prall gefüllt, Mülltonnen quellen über.
Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Bei dem Versuch,
den Mangel zu überwinden, leisten wir Menschen ganze
Arbeit. Sowohl in den Industrie-Nationen, als auch in
vielen nacheifernden Regionen weltweit, produzieren
Menschen eine unüberschaubare Masse von Produkten.
Als wäre Schlaraffenland Realität. Als würde alles immer
in unbegrenzter Menge nachwachsen und nichts kosten.
Doch aktuelle Krisen machen uns die Kosten eines Lebens
in Schlaraffenland bewusst. Wir platzen, wenn wir
unbegrenzt in uns hineinstopfen. Das Ganze ist kein gutes
Märchen. Das Ganze kann schlecht ausgehen. Vergleiche
ich die Realität mit dem Schlaraffenland, so erkenne
ich den Denkfehler.
Es führt zu Problemen, die Natur wie eine Konditorei zu
betrachten, die stets dazu da sein soll, unseren Hunger
zu stillen. Jeder Baum, jedes Blatt, das Wasser und die
Luft sind eben keine Torten. Sie sind lebendig. Wir behandeln
sie wie Produkte, die wir auf den Markt schmeißen
können und das ist eine subtile Form von Raub. Wir
rauben der Natur ihren Lebensraum, indem wir natürliche
Kreisläufe und Lebensbedingungen ignorieren, weil
wir uns dadurch mehr Ertrag versprechen. Es gibt auch
Menschen, die auf Kosten anderer Menschen leben. Diese
Lebensweise erschöpft am Ende alle. Den Planeten,
die Menschen und die von Menschen geschaffenen Institutionen.
Hier bin ich wieder bei der Faszination des Märchens,
in dem ich mich ohne eigene Anstrengung ernähren
kann. Ich kann mich auf die Wiese legen, und im Liegen
alles um mich herum verspeisen. Warum habe ich
mir das gewünscht? Vielleicht, weil es ein sorgenfreies
Leben verspricht. In der Realität sind natürliche Ressourcen
nicht unbegrenzt nachwachsend und sie sind auch
nicht gratis. Wer etwas zu Essen und ein Dach über dem
Kopf braucht, muss dafür etwas bezahlen. In der Realität
müssen wir uns nicht nur anstrengen, wir konkurrieren
sogar mit anderen Menschen um die vorhandenen Ressourcen
und kämpfen um den lukrativsten Arbeitsplatz.
Und wenn der Wohlstand weiter wachsen soll, müssen
Menschen immer mehr Leistung bringen, damit sie immer
mehr Geld haben, um immer mehr Waren zu kaufen
und damit das Bruttoinlandsprodukt wachsen kann, damit
wir alle genug Geld haben, um uns in der nächsten Krise
wieder einen Rettungsschirm leisten zu können. Und
so weiter. Logisch. Leistungsträger, Höchstleistung, Besitzstandswahrung
sind Begriffe unseres Alltags in einer
Leistungsgesellschaft.

DIE ERSCHÖPFUNG
oder „sind wir noch zu retten?“
Durch die Pandemie wurde dieser Idee von Wachstum
und Wohlstand weltweit ein Dämpfer verpasst. Lieferengpässe,
Knappheit, überforderte Institutionen. Hinzu
kommt die Klimakrise mit spürbaren Katastrophen und
immer wieder müssen Branchen oder Landschaften oder
aussterbende Arten gerettet werden. Oder gleich die
ganze Demokratie. Fast wie in den Märchen. In vielen
Märchen steht zu Beginn eine schier unlösbare Aufgabe.
Ein Monster muss besiegt oder ein böser Zauber überwunden
werden. Übermenschliche Kräfte werden gebraucht,
großer Mut oder besondere Schläue sind nötig,
denn immer wieder muss im Märchen gerettet werden:
meistens eine Prinzessin, manchmal ein ganzes Königreich,
manchmal nur die eigene Haut.
In Krisenzeiten werden Sicherheiten und Gewissheiten
in Frage gestellt. Die Theater wurden durch die Pandemie
gezwungen, eine Vollbremsung zu machen. Diese
Zwangspause hat vor allem die Freischaffenden getroffen,
die nicht durch eine Institution und durch Kurzarbeit aufgefangen
wurden. Plötzlich waren Theatermenschen vom
Erwerbsleben abgeschnitten, waren überflüssig, denn ihr
Beitrag zum Leben war nicht relevant.
Verschiedene Rufe wurden laut: „Wie unter einem Brennglas
werden in der Pandemie vorhandene Missstände
deutlich“ oder „Ich möchte mein altes Leben wieder
haben“. Diese gegensätzlichen Stimmen habe ich oft gehört.
Ich wollte mein altes Leben nicht zurück.
Wir hatten in der Pandemie sehr viel Zeit … wir waren gelassen,
wir waren erstaunt, neugierig, waren verunsichert,
manchmal wütend, manchmal sarkastisch, dann wurden
wir zunehmend deprimiert. Viele Male schöpften wir Hoffnung,
um mit jedem neuen Lockdown ein bisschen tiefer
enttäuscht zu sein. Und dann konnten wir spüren, wie erschöpft
wir waren. Jahrzehntelanges Ringen um Sichtbarkeit.
Sichtbarkeit, nicht gerade ein Selbstläufer mit einer
Adresse auf dem Land. Sich eine Stellung auf dem Markt
erarbeiten. Sich behaupten in der Freien Theater-Szene.
Immer wieder für die KSK (Künster-Sozial-Kasse) die eigene
Professionalität nachweisen und in Anträgen die eigene
Innovationskraft beschreiben, die eigene Förderwürdigkeit
immer wieder untermauern und dazwischen auch
noch proben und touren und Autobahnkilometer abreißen
und Bühnenbilder schleppen und aufbauen und die
Menschen begeistern. Sich nie eine schlechte Vorstellung
leisten und auch keine mittelmäßige Inszenierung, sonst
wirst du nicht wieder eingeladen… und in der Pandemie
sollten wir uns möglichst jeden Monat neu erfinden und
innovativ sein und die Branche am Leben halten, wohlgemerkt,
ohne eine Perspektive zu haben, auf blauen Dunst.
… wir waren schon vor Corona ausgelaugt, denn wir waren
stets über unsere Grenzen gegangen. Während der
Pandemie spürten wir die Erschöpfung.
Soll das jetzt immer so weiter gehen, haben wir uns gefragt?
Bevor wir alles um uns herum: die Natur, die Institutionen,
die Betriebe, die einzelnen Menschen immer
nur noch retten müssen, mit Rettungsschirmen und im
Notbetrieb, fällt uns da nichts Besseres ein?

DIE PROJEKTIDEE
„Die Kunst des Weglassens“ wird im Rahmen von Neustart
Kultur gefördert. NEUSTART. „Was bedeutet das für
unser Theater?“, haben wir uns gefragt und aus dieser
Fragestellung ein Projekt zur Neuorientierung entworfen.
Unsere Ausgangslage war die Entwicklung, die wir
bereits seit mehreren Jahren anstreben. Um fossile und
menschliche Energie zu sparen, wollen wir in Zukunft weniger
Tourneen fahren und unsere künstlerische Arbeit
mehr in der Region verankern, in der wir zu Hause sind.
Unser Theater entwickelt verschiedene Formen der Darstellenden
Kunst für alle Menschen in der Region, wobei
unser Fokus besonders auf Kindern liegt. Unsere Theaterkunst
ist für Kinder oder sie wird vom Kind aus gedacht.
Für uns liegt es nahe, angesichts der Klimakrise unseren
Beitrag zu leisten, um der nachwachsenden Generation
ihre Lebensgrundlage zu erhalten. So haben wir uns ein
Projekt zum Thema Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit
ausgedacht.

REGIONALE RECHERCHE IN DER
REGION SCHWALM-KNÜLL
Um unsere zukünftige Theaterarbeit in einen direkten Zusammenhang
mit den Menschen in unserer Region zu
bringen, haben wir Initiativen, Institutionen und Betriebe
besucht und intensive Gespräche mit den Menschen vor
Ort geführt.
In der Zeit von Ende Mai bis Mitte Oktober 2022 führten
wir Interviews mit Menschen, die sich auf unterschiedliche
Weise mit der „Kunst des Weglassens“ auskennen.
Dabei interessierten uns nicht nur offensichtlich ressourcenschonende
Ideen, sondern verschiedene Lebensbereiche.
Wir wollten die Menschen hinter den verschiedenen
Initiativen und ihre Motivationen kennenlernen. Wir
haben gefragt, wie sie ihre Ideen ganz konkret in die
Tat umsetzen, wie sie Herausforderungen meistern und
wie ihr Alltag aussieht. Wir besuchten die Kinder eines
Waldkindergartens, einen unverpackt-Laden, Biohöfe,
Menschen im Repair-Cafe und in Freizeitparks. Überall
haben wir spannende Impulse erhalten. Die Begegnungen
haben sofort Assoziationen bei uns in Gang gesetzt.
Darum geht es. Ein Prozess hat begonnen und in den
kommenden Jahren werden viele der Informationen und
Inspirationen ihren Weg in unsere künstlerische Arbeit
und auf die Bühne finden. Die Bühne, die wir vielleicht
weglassen, weil die Geschichte in einem Wald spielt
oder im Wasser. Wer weiß?

AUSTAUSCH MIT ANDEREN THEATERN
Wir haben auch ein paar andere Theater besucht. Wir
waren beim „Jahrmarkttheater“ weit oben im Norden und
beim „Theater Papilio“ ganz im Süden der Republik und
zwei Theater aus der Nachbarschaft haben wir zu uns
nach Immichenhain eingeladen. „Hirsch& Co.“ aus dem
Vogelsberg und „Annika Keidel“ aus Fulda. Alle haben
uns einen Einblick in ihre Arbeit gegeben. Gespannt haben
wir ihnen zugehört, viel gefragt, viel erfahren. Wir
wollten wissen, wie andere Theater die Krise gemeistert
haben und ob sie ebenfalls darüber nachdenken, in Zukunft
etwas zu verändern? Wir haben über das „Weglassen“
in der Kunst gesprochen und haben herausgefunden,
dass wir immer noch alle ganz unterschiedlich
sind. Somit ist eines sicher. Die Welt der Kunst bleibt
vielschichtig und bunt.
In diesem Heft fassen wir zusammen, was wir auf unserer
Suche bis jetzt herausgefunden haben und wünschen
viel Vergnügen beim Lesen oder Schmökern.

Silvia Pahl, theater 3 hasen oben